11 Jun

Die mutlose Unmündigkeit des Menschen

Von Jörg Noller (Augsburg)

In seinem bekannten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 schreibt Kant, „Faulheit und Feigheit“ seien „die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“ (8:35). Diese Diagnose gilt auch für die heutige Zeit, in der wir mit der Gefahr einer „digitalen Unmündigkeit“ konfrontiert sind. Denn wir sind immer mehr bereit, unser Denken an Algorithmen – in Kants Worten „Satzungen und Formeln“ zu delegieren, die zu „mechanischen Werkzeuge[n]“ unseres Denkens werden. In Abwandlung eines Zitats von Kant können wir sagen: „Habe ich ChatGPT, das für mich Verstand hat, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ Kants Forderung lautet deswegen: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Wo sich Kant allerdings irrt, ist in meinen Augen seine darauf folgende These, „[d]aß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte“ (8:35). Kants Generalisierung des „schönen Geschlechts“ verwundert bei all seiner sonstigen Scharfsinnigkeit. Es mag sicherlich der Fall sein, dass Männer und Frauen zu Kants Zeit anderen gesellschaftlichen Zwängen und Normen unterlagen als heute. Doch geht Kants These noch weiter. Sie betrifft nicht nur gesellschaftliche Zustände, sondern eine generelle Disposition zur mutlosen Unmündigkeit, die er dem „schönen Geschlecht“ unterstellt. Aufklärung setzt jedoch voraus, allen Menschen, egal welchen Geschlechts, den nötigen Mut zu unterstellen, der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entgehen.

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