24 Sep

Familie im Wandel

Von Angelika Walser (Salzburg)


Ein interdisziplinärer Sammelband plädiert für eine Anerkennung der Vielfalt familialer Lebensformen in Gesellschaft und Kirchen, Politik und Recht.

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„Du hast einen Kinderwunsch? Bist womöglich Single, lesbisch oder schwul? Ob klassische Familie, Co-Elternschaft, Regenbogenfamilie, Mehrelternschaft oder alleinerziehend: bei Familyship ist dein Kinderwunsch in guten Händen – von deinem Wunsch über Beratung bis zur Umsetzung. Gründe die Familie, die zu dir passt!“ (https://www.familyship.org/)  So oder ähnlich lauten die freundlichen Einladungen auf sog. Co-Parenting Websites, die es mittlerweile weltweit gibt, auch im deutschsprachigen Raum. Mit ihrer Hilfe können Menschen mit Kinderwunsch eine Familie gründen und zwar auf dezidiert freundschaftlicher Basis, nicht auf Grundlage einer romantischen Liebesbeziehung.

Ausgangspunkt: Co-Parenting-Websites

Was auf den ersten Blick wie eine konsument:innenorientierte Ansage einer Supermarktwerbung erscheinen mag, wirft Fragen auf: Signalisieren Co-Parenting Websites einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise, wie sich die Familie der Zukunft konstituiert? Markieren sie das endgültige Ende des Leitbilds der romantischen Liebesehe, die durch Kinder gekrönt ist und die von einer rein freundschaftszentrierten Lebensweise abgelöst wird – eine Forderung, die sich derzeit in etlichen feministischen Publikationen finden lässt? (Roig 2023; Newerla 2023) Sind sie Ausdruck des Zerfalls von Familie überhaupt, wie insbesondere wertkonservative religiöse Menschen befürchten?

Bei all diesen Fragen geht es nicht nur um die empirisch-deskriptive Erfassung eines Wandels, sondern immer auch um ethisch-normative Fragestellungen: Gibt es Risiken und Nebenwirkungen bei dieser Art der Familiengründung? Ist beispielsweise zu befürchten, dass sich hier das derzeit allerorten propagierte Prinzip der reproduktiven Autonomie im Sinne eines Anspruchsrechts von Erwachsenen auf ein Kind derart verselbständigt hat, dass Würde und Wohl von Kindern geschützt werden müssen, unter Umständen auch durch verpflichtende staatlich-rechtliche Regulierung? Angesichts der zahlreichen Auswahlmöglichkeiten der Co-Parenting-Websites („Mutter mit Tantenfunktion“ etc.) in Kombination mit Reproduktionstechnologien, kann bei kritischer Betrachtung leicht der Eindruck einstellen, hier würden Erwachsene mittels Verfolgung des „Projekts Kind“ biografische Selbstoptimierung betreiben und zwar ohne sich ihrer Verantwortung wirklich bewusst zu sein. Last but not least stellt sich die Frage, welche ethischen Herausforderungen solch neue Familienkonstellationen mit sich bringen und ob und inwiefern sie im Vergleich zur traditionell bürgerlichen Familienform Vater- Mutter-Kind-Familie wirklich neu sind?

Fragen wie diese tangieren den Mikrokosmos Familie mit seinen einzelnen Mitgliedern ebenso wie die allgemeine politische Ordnung. Sie verlangen dementsprechend nach inter- oder zumindest transdisziplinärem Austausch von  Sozial- und Geschichtswissenschaften, philosophischer und theologischer Ethik sowie der Rechtswissenschaft. Sie alle sind daher auch an dem neu erschienenen Sammelband „Familie im Wandel“ beteiligt, der im Frühjahr 2024 im Springer Verlag erschienen ist.

Co-Parenting-Familien: Hintergründe und Motivationen

Ausgangspunkt des Bandes und roter Faden für fast alle Beiträge ist das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierte Forschungsprojekt der beiden theologischen Ethikerinnen Bernadette Breunig und Angelika Walser an der Universität Salzburg. Breunig hat mittels qualitativer Sozialforschung acht Paare interviewt, die sich über www.familyship.org ihren Kinderwunsch erfüllt haben oder erfüllen möchten. Dabei handelt es sich keineswegs ausschließlich um Mitglieder der queeren Community, sondern auch um heterosexuelle Menschen. Gerade im letzteren Fall unterscheiden sich Co-Eltern-Familien in der Außenwahrnehmung sowie in ihrer rechtlichen Gestaltung nicht wesentlich von einem heterosexuellen unverheirateten Elternpaar mit Kind(ern). Als Motiv für diese alternative Form der Familiengründung wird häufig Angst vor überhöhten Erwartungen an Ehe und Partnerschaft angegeben. Niemals zuvor waren diese höher als heute (Coontz 2006).

Die Individualisierungsprozesse der Moderne sowie die mit der Veränderung der Geschlechterrollen einhergehende stetige Verhandlungsnotwendigkeit bei der Aufgabenverteilung, insbesondere der Kindererziehung, lassen Partnerschaften brüchiger werden. Überhöhte Ideale und Leitbilder von Ehe und Familie, wie sie in den Medien, aber auch in den christlichen Kirchen transportiert werden, erhöhen den Druck noch. Angesichts der nach wie vor ständig steigenden Anzahl an Ehescheidungen setzen manche Menschen bei der Familiengründung daher nun auf andere Beziehungsformen: Freundschaften werden dabei häufig als stabiler und langlebiger erfahren als romantische Beziehungen.

Schon in den 90er Jahren hat die Soziologie darauf hingewiesen, dass angesichts dieser Brüchigkeit die Eltern-Kind-Beziehung an Bedeutung. Sie soll die unerfüllte Sehnsucht nach Stabilität kompensieren: „Das Kind wird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung. Partner kommen und gehen. Das Kind bleibt. Auf es richtet sich all das, was von der Partnerschaft herbeigesehnt, aber in ihr unauslebbar wird.“ (Beck/ Beck-Gernsheim 1990, S. 55).

So fragwürdig und belastend diese nun an das Wunschkind gerichtete Erwartungshaltung wohl ist, so klar wird allerdings in den Interviews, dass die meisten Personen sich der Gefahr bewusst sind und die Entscheidung für Co-Elternschaft überlegt und verantwortungsvoll treffen. Dabei spielen die klassischen „Family Values“ wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Stabilität sowie die unbedingte Liebe zum Kind dieselbe zentrale Rolle wie eh und je. Werden diese von den Co-Eltern gelebt – und zwar auch dann, wenn etwaige neue Partnerschaften Aufmerksamkeit und Zuwendung verlangen – kann diese Familienform also gelingen und ein Schutzraum für die Entwicklung und Entfaltung von Kindern sein, so das Resümee von Breunig.

Die Beiträge des interdisziplinären Sammelbands

Auf Breunigs Beitrag aufbauend befasst sich Angelika Walser- dezidiert aus Sicht der katholischen Ehe- und Familientheologie – mit dem Phänomen Co-Parenting. Bei aller Würdigung der Pluralität neuer Familienformen in Anlehnung an das nachsynodale Schreiben „Amoris Laetitia“ von Papst Franziskus macht sie in Auseinandersetzung mit Hartmut Rosas Zwei-Achsen-Modell auch auf die Schwachstellen der Co-Parenting-Konstellation aufmerksam, die Situationen von Verletzlichkeit und Angewiesenheit (auch der beteiligten Erwachsenen) kaum Rechnung tragen können. Eine Rechtsberatung sowie psychosoziale Beratung ist daher dringend zu empfehlen.  

Geschichts-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften

Breunig und Walser haben Kolleg:innen anderer Disziplinen eingeladen, den Horizont ihres Forschungsprojekts zu weiten und zu einem besseren Verständnis und einer Einordnung neuer Familienformen generell beizutragen:  Eva Matthes (Universität Augsburg) sorgt für die geschichtliche Einbettung und beginnt mit einem Rückblick in die Vergangenheit. Sie skizziert in ihrem Beitrag die Geschichte der Familie in Deutschland, mit einem Fokus auf ihre Erziehungsfunktion. Dem historischen Beitrag folgt die Perspektive der Sozialwissenschaften: Barbara Thiessen (Universität Bielefeld) stellt vor dem Hintergrund eines empirischen Blicks auf Familie diesen alltäglichen und selbstverständlichen Ort menschlichen Miteinanders vor. Ein Blick auf die Datenlage unterstreicht eher die Persistenz familiärer Konstellationen. In den Tiefenstrukturen familialer Lebenslagen lassen sich jedoch mithilfe des theoretischen Konzepts „Un/Doing Family“ bedeutsame Veränderungsprozesse nachzeichnen.

Angesichts vielfältiger neuer Familienformen ist das Recht gefragt, das die Entwicklungen im 21. Jahrhundert berücksichtigen muss. Karin Neuwirth (Universität Linz) stellt in ihrem Beitrag „Individuelle Rechtsgleichheit als Grundlage pluraler Familienformen“ Meilensteine der Entwicklung des Ehe- und Familienrechts vor. Neuwirth diskutiert, inwieweit durch Fortpflanzungsmedizin zustande kommende neue Familienkonstellationen und Co-Parenting als neue Form der Familiengründung in der geltenden österreichischen und deutschen Rechtslage zu verorten sind und eine weitere Öffnung des Familienbegriffs erforderlich macht.

Rechtswissenschaft und theologische Ethik

Spätestens mit dem Beitrag aus der Rechtswissenschaft wird deutlich, dass Familie immer mehr als eine reine Privatsache zwischen zwei Personen ist. Elisabeth Zschiedrich (Universität Fribourg) knüpft aus sozialethischer Perspektive an dieser Tatsache an. In ihrem Beitrag legt sie den Fokus auf die Bedingungen, unter denen Kinder heranwachsen und auf das Wechselspiel zwischen Eltern bzw. Familien und der Gesellschaft. Dass Co-Parents bei der Familiengründung manchmal auf reproduktionsmedizinische Technologien zurückgreifen, thematisiert u.a. der Beitrag des theologischen Ethikers Markus Zimmermann (Universität Fribourg). Er geht davon aus, dass die neuen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten wie die In-vitro-Fertilisation, die Eizell-, Embryonen- oder Spermienspende, die Leihmutterschaft sowie die vielen gendiagnostischen und neu auch gentherapeutischen Möglichkeiten einen Einfluss sowohl auf Vorstellungen als auch auf die Realität familiärer Lebensformen ausüben.

Philosophische Ethik

Zwei genuin philosophische Beiträge runden den Sammelband ab: Gottfried Schweiger (Universität Salzburg) diskutiert in seinem Beitrag den ethischen Wert von Familie. Ausgehend von der Pluralität der Familie und ihren vielen verschiedenen Formen argumentiert er, dass nicht die Familie wertvoll ist, sondern soziale Beziehungen, die auch in Familien realisiert werden. Es werden dafür drei Beziehungsformen herausgegriffen: Liebe, Fürsorge und Erziehung. Diese drei sozialen Beziehungen sind für ein gutes Leben wertvoll und daher auch ethisch wertvoll. Liebe, Fürsorge und Erziehung sind zwar oft in Familien anzutreffen, aber nicht in allen Familien, und sie sind auch nicht konstitutiv für die Familie. Daher ist auch nicht die Familie als abstraktes soziales Konstrukt schützens- und förderungswürdig, sondern es sind diese Beziehungen selbst. Diese hat soziale und politische Implikationen. Als Dimensionen eines guten Lebens sind Liebe, Fürsorge und Erziehung nicht nur individuell wertvoll, sondern alle Menschen haben einen moralischen Anspruch darauf, sie in ihrem Leben realisieren zu können. Dieser Perspektivenwechsel ist auch für die ethische Reflexion auf neue Familienformen wie Co-Parenting relevant: Es zählt nicht die Form der Familie, sondern inwiefern sich in diesen Liebe, Fürsorge und Erziehung verwirklichen lassen. Alle Familien, in denen dies der Fall ist, verdienen Anerkennung.

Auch der Beitrag von Nikolai Münch (Universität Mainz) entstammt der Philosophie. Er verlässt allerdings das Thema Co-Parenting und widmet sich statt dessen der höchst aktuellen Debatte um die Leihmutterschaft. Der Artikel vertritt die These, dass zentrale Einwände gegen Leihmutterschaft, wie beispielsweise die Kritik an einer Verdinglichung und Kommodifizierung von Kind und Leihmutter, aber auch die Sorge vor einer Gefährdung des Kindeswohls, erst vor dem Hintergrund bestimmter historischer und normativer Vorstellungen von Familie und insbesondere von Mutterschaft voll rekonstruiert werden können. Münch analysiert, wie in diesen normativen Vorstellungen biologische und soziale Sachverhalte in ambivalenter Weise miteinander verwoben sind und wie die Vorstellung einer bürgerlichen Kernfamilie mit Mutterschaftsidealen und Geschlechterverständnissen einhergehen, die die ethischen Diskussionen um Leihmutterschaft auch heute noch mitbestimmen.

Ein Plädoyer für den Schutz der Vielfalt von familialen Lebensformen

Durch den Sammelband zieht sich wie ein roter Faden das Plädoyer aller beteiligter Wissenschaftler:innen, der Vielfalt familialer Lebensformen in Recht und Politik besser Rechnung zu tragen, um Familie als Schutzraum intergenerationeller Verantwortung zu stärken. Angesichts des steigenden sozioökonomischen Drucks erscheint dies notwendiger denn je. Auch in ihren neuen Formen bleibt Familie ein unverzichtbarer Bestandteil für Individuen und Gesellschaft. Familien sind eben nach wie vor der „Ort, wo alles zusammenkommt“ (Plonz 2018, S. 124). 


Angelika Walser ist Professorin für Theologische Ethik und Spirituelle Theologie an der Universität Salzburg. Gemeinsam mit Bernadette Breunig und Gottfried Schweiger ist sie Herausgeberin des im Springer Verlag erschienen Sammelbands „Familie im Wandel“: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-68056-8


Bibliographie

Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990.

Coontz, Stephanie: In schlechten wie in guten Tagen: Die Ehe – eine Liebesgeschichte, Bergisch Gladbach 2006.

Newerla, Andrea: Das Ende des Romantikdiktats. Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten, München 2023.

Plonz, Sabine: Die Wirklichkeit der Familie und protestantischer Diskurs. Ethik im Kontext von Re-Produktionsverhältnissen, Geschlechterkultur und Moralregime, Baden-Baden 2018.

Roig. Emilia: Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe, Berlin 2023.