05 Apr

Kapitalismus als Corona-Party – und wie die Welt von morgen tatsächlich besser werden könnte

Interview mit Martin Gessmann (Offenbach)

Wir sind noch mitten dabei, das Schlimmste zu verhindern bei der Ausbreitung der Corona-Pandemie. Und das ist gut so, es geht um viele Tausende an Menschenleben, weltweit. Und doch kann man den Augenblick auch schon nutzen, um nach vorn zu schauen. Die Art und Weise, wie wir heute miteinander umgehen – mehr oder weniger gezwungenermaßen – könnte zukunftsweisend sein. Man könnte es als einen Testfall ansehen dafür, ob wir es nicht auch freiwillig besser hinbekommen, indem wir etwa auf Reisen verzichten, nicht ständig irgendwohin unterwegs sind und den Konsum herunterfahren. All das würde dem geschundenen Klima und unserer Umwelt sehr zu Gute kommen. Schon jetzt ist etwa klar, dass in Deutschland auch noch die ehrgeizigsten Emissionsziele für 2020 mit wehenden Fahnen erreicht bzw. übertroffen werden. Bis zu 120 Millionen Tonnen CO2-Einsparung sind nach bester Schätzung in diesem Jahr möglich. Man kann es auch so wenden: Willkommen in Gretas Welt. Alles würde klima-gut, würden wir ab jetzt konsequent so weiter machen. Weil das viel zu schön klingt, um wahr zu sein, braucht es dringend einen Realitätscheck – was ist dran an den Post-Corona-Visionen? Steht uns das Ende des Kapitalismus bevor? Wird das Klima durch ein Virus gerettet? Jedenfalls nicht, wenn wir das philosophische Fingerhaken so weiter treiben, mahnt der Philosophen Martin Gessmann. Das Gespräch führte Marc Halbach.

PRAE-FAKTISCH:

Alle reden von Klimazielen und radikaler CO2-Reduktion. Jetzt haben wir sie – was ist falsch?

Gessmann:

Schön für das Klima, die Frage ist: ist es auch schön für uns Menschen? Der Lock-down mag für manche eine neue existenzielle Erfahrung sein und für viele sogar beglückend. Ein Gespräch mit einer Kollegin endete beinahe in Euphorie, als wir uns vorhielten, wohin wir jetzt in den kommenden Tagen und Wochen alles NICHT ganz dringend hinmüssen. Es lebe die Entschleunigung, mag sein. Wir müssen uns aber fragen, ob das dauerhaft so bleiben soll und noch mehr: ob es überhaupt so bleiben kann.

PRAE-FAKTISCH:

Sie meinen jetzt den finanziellen Aspekt?

Gessmann:

Damit muss man anfangen. Bundesfinanzminister Scholz plant für dieses Jahr mit mindestens 150 Milliarden Euro neuen Schulden. Vielleicht hält man das ein Jahr lang durch, vielleicht auch noch zwei, dann wird es vermutlich schon unbezahlbar. Lektion: wir können uns das nicht leisten. Das klingt so banal und simpel, dass es gar nicht so weit kommen sollte, es überhaupt auszusprechen. Und doch sind jetzt wieder radikale Kapitalismuskritiker unter uns Denkern erwacht und prophezeien – zum wievielten Male – das bevorstehende Ende unserer Wirtschaftsmoderne. Kevin Kühnert etwa hat die Chance genutzt.

PRAE-FAKTISCH:

Könnte man aber nicht wenigstens eine Kapitalismus-Kritik light gelten lassen: von allem ein bisschen weniger tut es auch?

Gessmann:

Nach der Art: wir brauchen jetzt einen Bewusstseinswandel? Besinnung auf das, was wirklich wichtig ist? Einen weltweiten Waffenstillstand – wie es soeben UNO-Generalsekretär Guterres fordert: Absolut! Aber diesen Appell gab es schon immer. Schon die alten Philosophen-Griechen redeten sich ihre klassischen Münder fusselig, um die Menschen zu Einsicht und womöglich zur Umkehr zu bewegen, Sokrates, Epikur, Diogenes im Fass und so weiter. Die Wahrheit ist: Es hat noch nie funktioniert. Es sei denn, man schärft das ideologische Regime an wie im Mittelalter und verhängt andauernd Gottesstrafen – sehr reale überdies. Wir haben es in den abendlichen Nachrichten gesehen: die Aufklärung über Corona führte bei vielen jungen Menschen nicht zu einer Trübung der Feierlaune und dementsprechenden Partyverzicht. Unser Kapitalismus ist – so gesehen – nichts anderes als eine fortwährende Corona-Party.

PRAE-FAKTISCH:

Gibt es aber nicht Dinge, die man im täglichen Miteinander anders machen und kann? Solidarität, Hilfsbereitschaft, Einstehen füreinander? Das ist doch hocherfreulich!

Gessmann:

Ja, und vor allem: Abstandhalten. Von Umarmungen absehen, die betagten Eltern nicht besuchen… Ich warne einfach davor, die üblichen und immer gleichen Rituale jetzt noch einmal zu wiederholen: in der Krise lernen wir wieder, menschlich zu sein – und danach vergessen wir es auch gleich wieder. Nein, was es braucht, sind jetzt handfeste Lektionen: was hat funktioniert, was hat nicht funktioniert?

PRAE-FAKTISCH:

… als da sind?

Gessmann:

Fangen wir bei der Mobilität an. Seit Jahren bekommen wir gepredigt, beinahe flehentlich: lasst das Auto in der Garage, schafft es am besten ab, benutzt öffentliche Verkehrsmittel. Jetzt lernen wir nicht nur, dass man in London die U-bahn streckenweise schließen muss wegen der Covid 19-Ansteckungsgefahr. Wir lernen auch, dass im Winter das Ansteckungsrisiko (bei Schnupfen, Grippe etc.) bis zu 6 Mal höher ist als im Individualverkehr. Will sagen: Die Öffentlichen sind Virenschleudern, sind es immer schon gewesen. Für ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankung war das noch nie gut. Man kann nämlich auch an weniger als Covid 19 sterben. Es muss nicht immer Pest sein, Cholera reicht auch. Lektion: das ganze Hin- und Her auf den Straßen zu ersetzen durch ein Hin und Her im ÖPNV kann keine Lösung sein.

PRAE-FAKTISCH:

Heißt das: Home-office jetzt für immer und für alle? Ist das die positive Erkenntnis?

Gessmann:

Home-office hat immerhin schon gezeigt, dass nicht alles im Büro verhandelt werden muss. Es geht manches auch von zuhause. Die eigentliche Lektion ist aber eine andere: Wir müssen Arbeiten und Wohnen viel näher zusammenbringen. Ein paar Schritte ins Büro, das muss reichen. Innenstädte müssen wieder bewohnbar werden, die Monokultur in der Bebauung muss aufhören: hier Produktion, hier Verwaltung, fern davon die Wohneinheiten. Wie das Design einer neuen Struktur von urban industries aussieht, das erforschen wir unter anderem an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach.

PRAE-FAKTISCH:  

Und was ist die dritte und alles entscheidende Lektion? In der Philosophie muss es doch immer noch etwas Drittes geben?

Gessmann:

Das stimmt auch hier! Erstaunlich: wieviel Geld in welcher Geschwindigkeit locker gemacht wird im Zuge der Corona-Krise. Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, hat alle Mühe, das Jahrhundert-Projekt der Klimaneutralität Europas bis 2050 zu finanzieren: Geschätzte Kosten für die nächsten 30 Jahre: Eine Billion Euro. Innerhalb knapp einer Woche gingen jetzt von der Europäischen Zentralbank und der US-amerikanischen Fed bereits Hilfszusagen aus von zusammen mehr als zwei Billionen US-Dollar. Auf Nachfrage, ob auch noch mehr drin ist, bedingungsloses Kopfnicken. Was China bereit ist in den Wiederaufbau der Wirtschaft zu stecken, kann man nur erahnen, es wird aber kaum unter den eben genannten Summen liegen. Lektion: Geld ist da, whatever it takes! Ziel sollte sein: beim Wiederaufbau gleich vieles besser zu machen und zu richten: Städte und Verkehr menschenfreundlich, Produktion und Energiegewinnung umweltfreundlich.

PRAE-FAKTISCH:

Jetzt muss ich Sie aber doch bei Ihrem mahnenden Wort nehmen: Ist das nicht auch wieder nur philosophisches Wunschdenken? Eine schöne Parole, aus der nichts folgt?

Gessmann:

Wenn man sieht, in welchem Tempo in welcher Konsequenz China zurzeit vorangeht in Sachen Umweltschutz und grüner Mobilität, dann halte ich das gar nicht für unrealistisch – das kann sehr wohl gelingen. Allein der Ausbau des Fernverkehrs: innerhalb von wenigen Jahren entsteht in China ein Netz an Hochgeschwindigkeitszügen, man kann fast in Echtzeit zuschauen, wie sich auf der Karte die Linien durch das riesige Land ziehen. Die Züge sind hochkomfortabel, sauber, pünktlich, der Fahrpreis ok. Ausbau der Elektromobilität dito, und so weiter.

PRAE-FAKTISCH:

Sind uns die Chinesen etwa auch weltanschaulich voraus?

Gessmann:

Die Frage ist vermintes Gelände, wenn es um politische Systeme geht, um Kommunismus, um Überwachung und dergleichen Dinge mehr. Geht es speziell um Seuchenpolitik, scheiden sich Geister auch noch. Worüber man aber angestrengt nachdenken sollte – und dabei durchaus aufgeschlossen sein – ist ein Konzept, welches der chinesische Philosoph Zhao Tingyang zurzeit im Westen bekannt macht und bewirbt: ‚Alles unter einem Himmel‘, oder chinesisch: Tianxia. Da geht es darum, wie man mit Problemen zurechtkommt, welche ausnahmslos die ganze Welt betreffen – also etwa Klimafragen oder Pandemien. Und der Ratschlag geht in die Richtung, endlich einmal alles wegzulassen, was exklusive Wahrheit und weltweite Deutungshoheit beansprucht. Auf unseren Fall bezogen: eben nicht wieder damit anzufangen zu meinen, die Stunde des Kapitalismus habe endgültig jetzt geschlagen, oder vom chinesischen Virus zu sprechen, oder mit klima-religiösen Mahnungen den Anfang vom Ende der Welt auszurufen. Ideologische Überhöhung führe nur zu Streit und Stillstand. Oder um es mit den Worten eines heimischen Weisen aus der Fußballwelt zu sagen: „Die Welt hat einen kollektiven Burn-out erlebt“ – damit hat Joachim Löw die Lage vollkommen richtig beschrieben. Und es wäre nun gut, das intellektuelle Feuer nicht weiter zum weltanschaulichen Zündeln zu verwenden, sondern für ein Mal zum praktischen Bessermachen.


Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorie sowie Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

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