04 Aug

250 Jahre Hegel – (K)eine Würdigung

Von Marc Nicolas Sommer (Basel)


Es ist Jubiläumsjahr: Neben Beethoven und Hölderlin feiert auch Hegel dieses Jahr seinen 250. Geburtstag. Grund genug für eine Würdigung. Eine solche aber läuft meistens auf die, wie Theodor W. Adorno anlässlich eines früheren Hegeljubiläums schrieb, „abscheuliche Frage“ hinaus, was an Hegel der Gegenwart noch etwas zu bedeuten habe. Abscheulich ist die Frage, weil sich in ihr die Anmaßung ausspricht, man könne, bloß weil man von Berufs wegen sich mit dem Toten befasst, ihm von einer überlegenen Position aus souverän seine Stelle zuweisen.[1] So weit sind wir noch nicht und deshalb wäre jede Würdigung Hegels verfrüht.

Hegels Einfluss auf die Geistesgeschichte ist unbestritten und die Namen derer, die er beeinflusst hat, sind zu zahlreich, um sie aufzuführen. Oft wurde er totgesagt, aber er wird immer noch gelesen. Gemessen an Quantität und Qualität derzeitiger Forschung stand es wahrscheinlich nie besser um Hegels Philosophie. Deshalb müssen wir uns fragen: Was ist es, das Hegels Denken trotz seiner Sperrigkeit auch heute noch für viele von uns verpflichtend macht?

Der Gedanken- und Materialreichtum des hegelschen Werks ist sicher einer der Gründe dafür, dass die Lektüre der hegelschen Schriften immer noch fleißig betrieben wird. Aber es ist nicht der einzige. Hegel ist, in gewisser Hinsicht, unser Zeitgenosse. Er hat als einer der ersten gesehen, dass mit der französischen Revolution eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte begonnen hat: die Moderne. Hegel hat die Anforderungen dieser Epoche erkannt und sein Werk ist der Versuch, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Er bestimmt die Moderne als die Epoche, die ihre Maßstäbe nicht von ihr äußerlichen Autoritäten, nicht aus der Tradition, nicht aus Mythen oder religiösen Überzeugungen gewinnt, sondern sie sich selbst geben muss.

In der anderen von Hegel erlebten großen Revolution, in Kants Revolution der Denkungsart, manifestierte sich ihm das gedankliche Prinzip, das der Moderne zugrunde liegt. Es besteht in der Negativität des Denkens, der grundlegend kritischen Tendenz autonomer Vernunft, alles Gegebene zu hinterfragen und nur das zu akzeptieren, was durch Denken selbst gesetzt und als gerechtfertigt erwiesen ist. Der Nachweis, dass die Negativität des Denkens nicht in einem bodenlosen Nihilismus mündet, der alles Feste in sich hineinschlingt, steht im Zentrum seiner gedanklichen Anstrengung.

Denken ist für Hegel nicht eine menschliche Fähigkeit neben anderen. Denken ist vielmehr das, was den Menschen als solchen ausmacht. Hegel bestimmt den Menschen als kategoriales Tier: In all unseren seelischen und mentalen Zuständen, in allem Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen, Erfahren, aber auch in allem Vorstellen, Handeln und Sprechen ist das Denken unbewusst am Werk. Die Gesamtheit der Denkbestimmungen, die dieses unbewusste Denken ausmachen, nennt Hegel Metaphysik.[2] Da diese Denkbestimmungen uns als Menschen eigentümlich sind, so dass wir gar nicht nicht in ihnen tätig sein können, haben wir immer schon eine, wenn auch unbewusste Metaphysik, die den Horizont unseres Welt- und Selbstverständnisses bildet. Hegel bezeichnet diese Metaphysik als „instinktartiges Denken“, als eine „absolute Macht in uns, über die wir nur Meister werden, wenn wir sie selbst zum Gegenstande unserer Erkenntnis machen“.[3]

Hegels Kernanliegen besteht darin, den unbewussten Horizont unseres Welt- und Selbstverständnisses zu artikulieren und ihn dadurch ins Bewusstsein zu erheben. Indem die Denkbestimmungen zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht werden, vermögen wir uns von ihrer absoluten Macht zu befreien, indem wir sie kritisch auf ihre Tragweite hin prüfen können. Die Negativität des Denkens bewährt sich für Hegel in einer Selbstkritik des Denkens, in der der Rahmen, innerhalb dessen all unsere Selbstvergewisserungsversuche stattfinden, ins Bewusstsein erhoben und in seiner Struktur artikuliert wird. So resultiert die kritische Tendenz des Prinzips der Moderne nicht in einer Zerstörung seiner eigenen Fundamente, sondern in der Artikulation des Rahmens, innerhalb dessen sich das Denken immer schon bewegt.

Diese in seinem dreibändigen Werk Wissenschaft der Logik (1812–1816) entwickelte Theorie des sich selbst bewährenden Denkens bildet die Grundlage für Hegels systematische Behandlung von Naturphilosophie, Anthropologie, Psychologie, Erkenntnistheorie, Rechtswissenschaft, Politik, Geschichte, Ästhetik und Religionsphilosophie. All diese Disziplinen und ihre Gegenstände werden von Hegel daraufhin geprüft, ob und wie sie den Anforderungen der Moderne entsprechen können. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Kunst und der Religion zu. Hegel rechnet sie zusammen mit der Philosophie dem absoluten Geist zu, womit er nichts anderes meint, als dass Kunst, Religion und Philosophie gleichermaßen menschliche Anstrengungen der Selbstvergewisserung sind.

Während die Philosophie diese Selbstvergewisserung im Medium des Denkens durchführt, verbleibt die Religion im Medium der Vorstellung, die Kunst im Medium der sinnlichen Anschauung. Dadurch sind die Selbstvergewisserungsleistungen von Kunst und Religion gegenüber derjenigen der Philosophie eingeschränkt und der Moderne nicht mehr angemessen. Den alten Ägyptern wurden in ihren Statuen und Sakralbauten ihre Götter, ihre Diesseits- und Jenseitsvorstellungen, kurz ihr ganzes Selbstverständnis manifest. Die modernen Verhältnisse dagegen sind zu komplex, um in Kunstwerken unverkürzt eingefangen werden zu können; deshalb kann Kunst in der Moderne die Aufgabe der Selbstvergewisserung nicht mehr vollends erfüllen. Da das Denken den Horizont aller möglichen Selbstvergewisserung bildet, kann die Moderne sich einzig im Medium des Denkens über sich selbst aufklären. Es gibt nach Hegel deshalb keine Alternative zur Selbstvergewisserung im Medium des Denkens und das bedeutet: Es gibt keine Alternative zur Philosophie.

Freilich ist nichts von dem unwidersprochen geblieben. Aber auch da, wo die hegelschen Antworten verworfen wurden, stehen seine Fragestellungen im Hintergrund. Wenn Georg Lukács die Moderne unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs als Zeit der transzendentalen Obdachlosigkeit apostrophiert, so steht dies unter der hegelschen Prämisse, dass die Moderne sich ihre normativen Richtlinien selbst geben muss, aber an dieser Aufgabe zerbrochen ist.

Das bedeutet nicht, dass sich Hegels Werk nicht ignorieren lässt. Besteht das Ignorieren nur im Nichtlesen, so scheint nichts einfacher als das. Aber wie Michel Foucault zu bedenken gab, vermögen wir Hegel nur dann wirklich zu entkommen, wenn wir den Preis abschätzen können, den wir für diese Loslösung zahlen; das Wissen um diesen Preis ist das Wissen darum, was in unseren Versuchen, gegen Hegel zu denken, selbst noch hegelianisch ist.[4] Hegel selbst hat den Preis in der Vorrede seiner Wissenschaft der Logik festgesetzt, wenn er schreibt: Ein Volk ohne Metaphysik sei wie ein Tempel ohne Allerheiligstes:[5] ihm fehlt der eigentliche Zweck seines Daseins. Dieser eigentliche Zweck ist die Freiheit der denkerischen Selbstvergewisserung. Eine Gesellschaft ohne Metaphysik ist mithin eine, die darauf verzichtet, sich die Grundlagen ihres Selbstverständnisses bewusst zu machen und damit gegenüber ihren eigenen Grundlagen blind bleibt. Diese Blindheit ist der Preis, den wir dafür zahlen, wenn wir uns der Verpflichtung zur Selbstvergewisserung entziehen.

Die Auseinandersetzung mit Hegels Denken lohnt mithin auch dann, wenn man keine seiner Antworten mehr für überzeugend hält. Denn Hegel artikuliert die Probleme der Moderne in einer Weise, die in vielerlei Hinsicht noch verbindlich ist. Wer die Mühe der Lektüre nicht scheut, wird sie nicht vergeblich finden; Hegels Denken ist anregend auch dort, wo er uns in die Irre zu gehen scheint. Aber Hegel zu würdigen, ihm seine Stelle zuzuweisen, setzt voraus, unsere eigene Stelle bereits zu kennen. Sie zu finden, erfordert einen Reflexionsprozess, in dessen Verlauf Hegel uns unweigerlich über den Weg laufen wird.


Marc Nicolas Sommer ist wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Geschichte der Philosophie an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der kritischen Theorie, der klassischen deutschen Philosophie, der Metaphysik und der Vernunftkritik. Daneben arbeitet und lehrt er auch in den Bereichen der antiken Philosophie, der Ästhetik und der politischen Philosophie. Sein derzeitiges Forschungsprojekt widmet sich dem Zusammenhang von Logik und Metaphysik in den Werken von Fichte, Schelling und Hegel.


[1] Adorno, Theodor W.: „Aspekte“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 5, S. 251–294, hier S. 251.

[2] „Metaphysik heißt nichts anderes als der Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen, gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen.“ Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, in: ders. Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969ff., Bd. 9, § 246 Zusatz.

[3] Ebd.

[4] Foucault, Michel: L’ordre du discours, Paris 1971, S. 74.

[5] Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik I, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, S. 14.