25 Apr

(M)Einen Vater pflegen

von Almut Kristine v. Wedelstaedt (Universität Bielefeld)


Mein Vater ist spät Vater geworden. Als ich promoviert hatte, war er schon alt. Ich entschied damals, das Kinderkriegen nicht länger aufzuschieben. Das Kinderkriegen, wie das manchmal so ist, dauerte aber. Und so war mein Vater, als ich mein Kind bekam, nicht nur alt, sondern auch krank. Die Diagnose Demenz stand zu dem Zeitpunkt noch nicht fest, aber es war offensichtlich, dass er vieles allein nicht mehr konnte. Er, der die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens jeden Tag 10 km gelaufen war, konnte nicht mehr laufen, stürzte immer wieder, verletzte sich dabei, manchmal schwer. Haushalt war ohnehin nie seine Stärke, auch das verschlimmerte sich. Alleinstehend wie er war, brauchte er eigentlich bei allem Unterstützung: Einkaufen, Putzen, Kochen, Körperpflege, Postbearbeitung, Arztbesuche, Medikamenteneinnahme, Tagesplanung. Es kam nach und nach, aber es kam alles.

Es war dabei nicht so, dass er keine Hilfe annehmen konnte. Er konnte sie nur nicht von anderen annehmen als seinen Kindern. Er wollte keinen Rollator, er wollte keine Fremden in der Wohnung, er wollte nicht umziehen in eine barriereärmere Umgebung. Meine Geschwister und ich waren im Prinzip alle in derselben Situation: wir hatten jede/r mindestens ein kleines Kind, einen (Vollzeit-)Job, arbeitende und z.T. pendelnde Partner*innen sowie einen schwerkranken Vater, der mehr und mehr eine Vollzeitbetreuung brauchte. Ich lernte bei jedem Telefonklingeln Angst zu haben. War es nicht die Kita, weil das Kleinkind wieder hustete oder schnupfte oder Fieber hatte, war es das Krankenhaus, weil mein Vater gestürzt war und sich verletzt hatte. Oder die Putzfrau, zu der wir ihn nach langen Diskussionen überredet hatten, die berichtete, was nun wieder passiert war. Oder die Polizei, weil sie ihn verwirrt aufgefunden hatte.

Zugleich war es schwierig, die Situation genau zu überblicken, weil wir für vieles nur seine Aussagen hatten, auf die man sich zunehmend nicht mehr verlassen konnte. Also musste man versuchen, ihn zu so vielen Terminen wie möglich zu begleiten, um selbst mit Ärzt*innen zu sprechen. Das hieß dann, dass das Kind entweder mit musste oder ich kostbare Zeit, in der das Kind betreut war, in Wartezimmern von Ärzt*innen verbrachte. Über das ständige schlechte Gewissen muss ich vermutlich nicht viel sagen: Ich hatte zu wenig Zeit für meinen Vater, ich hatte zu wenig Zeit für mein kleines Kind, ich hatte zu wenig Zeit für meine Arbeit, von Zeit für meine Beziehung, Zeit für mich, Zeit für andere Menschen gar nicht zu reden.

Das hat alles eine sehr persönliche Komponente: Die Beziehung zu meinem Vater war kompliziert, erst nach seinem Tod habe ich gemerkt, dass sie viel tiefer und besser war als ich lange vermutete, davon ausgehend könnte man einiges dazu sagen. Darum aber geht es mir hier nicht, sondern nur um das Strukturelle: Es gab für diese Art des Involviertseins in das Alt- und Krankwerden keinen Raum. Es gab keine Ideen, keine Vorbilder. Und es hörte nicht auf.

Als er endlich in ein betreutes Wohnen gezogen war, wo er wirklich gut und liebevoll umsorgt wurde, war es immer noch nötig, da zu sein. Nicht nur um ihn zu besuchen, sondern um ihn zu Ärzt*innen zu begleiten, Termine mit dem Familiengericht zu machen und wahrzunehmen, die rechtliche Betreuung zu übernehmen, alles Finanzielle zu regeln, in seine Versorgung eingebunden zu sein. Pflegejobs sind schlecht bezahlt, Pflegeeinrichtungen in der Regel schlecht besetzt. Es ist keine Zeit und kein Raum, jemanden rundum zu versorgen. Wenn man möchte, dass Pflege eine bestimmte Qualität hat, muss man deshalb in aller Regel selbst tätig werden. Ganz abgesehen davon, dass man manche Dinge vielleicht auch selbst übernehmen möchte, muss man es halt auch. Das jedenfalls ist meine Erfahrung mit einigen Angehörigen, die mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf in verschiedenen Pflegeeinrichtungen untergebracht waren und sind.

Vieles muss zudem tagsüber erledigt werden, mit Ärzt*innen kann man meist nur tagsüber sprechen, Menschen auf Ämtern und bei Versicherungen erreicht man nur tagsüber. Was vollkommen verständlich und berechtigt ist, gerät ständig in Konflikt mit den eigenen Arbeitszeiten. Zwar bietet der Uni-Job die nötige Flexibilität, aber trotzdem kann das eben auch ein ständiges Schuldgefühl erzeugen. Die Entgrenzung der Arbeitszeiten, zu der akademisches Tätigsein ohnehin einlädt, ist auf diese Weise quasi vorprogrammiert. Was tagsüber nicht geschafft wird, wird abends gemacht oder am Wochenende, nach der Betreuung des Kindes, oder das Kind muss wieder anders versorgt werden.

Natürlich könnte man Urlaub nehmen. Der Job lässt das zu, die Flexibilität ist da. Aber es ist ja nicht so, dass man vertreten würde oder werden kann. Zum einen gibt es oft keine Vertretungsregelungen, außer vielleicht in bestimmten gewählten Gremien, in denen Stellvertretungen vorgesehen sind. Zum anderen kann einiges nicht vertreten werden. In der Lehre gäbe es vielleicht noch die eine oder andere Möglichkeit. Aber Forschung muss man selbst machen. Sich an einer Stelle für anderes Zeit zu nehmen, verschiebt die Arbeit, die man nicht gemacht hat, nur auf später.

Die Zeitknappheit führt zudem zu einer Knappheit auch in der Sorgezeit, auch für den zu Pflegenden. Man verbringt verfügbare Zeit mit Kümmern, mit Arztbesuchen usw. Zeit, in der man sich mal nicht kümmert und einfach nur da ist, Zeit, die nicht mit irgendwelchen Versorgungen belegt ist, kommt demgegenüber kurz und immer kürzer.

Die Tatsache, befristet beschäftigt zu sein, verschärft die Situation in ihrer Brisanz. Der Druck in der Postdoc-Phase ist ohnehin groß. Mit kleinem Kind und zu pflegendem Elternteil ist man ständig im Hintertreffen. Es fehlt die Zeit, es fehlt die Konzentration. Die Schwierigkeiten, das zu priorisieren, was oft keine Termine hat, Forschung gegenüber Lehre und Verwaltung, ist sowieso eine riesige Herausforderung. Wenn es dann noch ständig Unvorhergesehenes gibt, das die eigenen Pläne durchkreuzt, ist es kaum zu bewältigen.

Hinzu kommen Gefühle, verwirrende Gefühle, die wiederum die Konzentration erschweren. Das Zurechtfinden in einer Situation, in der man mit einem eigenen Elternteil die Rollen tauscht. Die Scham, nicht hinzubekommen, was so vielen anderen doch anscheinend gelingt, in einer Situation zu stecken, die sich nicht leicht organisieren lässt. Traurigkeit angesichts des unwiederbringlich zu Ende gehenden. Wut über die Anforderungen, denen man nie genügen kann. Und es ist kein Ende abzusehen. Altwerden ist keine Phase, die vorbeigeht, nach der dann alles wieder besser wird. Krank alt zu werden ist einfach kränker werden und altern bis zu einem Ende, von dem man nicht weiß, wie es aussieht und wann es kommt.

Bei meinem Vater haben wir irgendwann entschieden, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Er wusste zu dem Zeitpunkt meist nicht mehr, wo er war, hatte oft große Angst, halluzinierte, sprach kaum noch, aß fast nicht mehr, trank nur noch wenig, kam mehrfach ins Krankenhaus, wo er dann jedes Mal wieder so weit gepäppelt wurde, dass er zurück in sein Zimmer konnte. In einem langen Telefongespräch mit seiner Hausärztin klärte ich, dass ab jetzt jede therapeutische Behandlung eingestellt wurde. Er konnte in dem betreuten Wohnen bleiben, wurde aber nur noch palliativ behandelt. Es war inzwischen die Covid 19-Pandemie ausgebrochen, es war ein normaler Abend unter der Woche, an dem ich nicht aufhören konnte zu zittern, ich bin am nächsten Tag trotzdem einfach weiter zur Arbeit gegangen. Wenige Wochen später erreichte mich am späten Vormittag der Anruf, dass mein Vater vermutlich absehbar sterben werde. Ich bin damals hingefahren, obwohl ich wie immer glaubte, eigentlich keine Zeit zu haben. Mittags ging ich wieder nach Hause, zurück an den Schreibtisch, ins nächste Zoommeeting. Mein Vater starb noch am selben Tag.


Almut Kristine v. Wedelstaedt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld. Dort ist sie zuständig u.a. für Studienorganisation, Studiengangsentwicklung und Geschäftsführung der Abteilung. Philosophisch arbeitet sie im Bereich der Praktischen Philosophie, momentan meist zu Fragen der Sexualphilosophie.

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